Das Süd-Nord-Gefälle

Agricola Vigneti Reale

Lange Zeit galt Apulien lediglich als ernstzunehmender Olivenölproduzent. Aber die Brüder Reale zeigten mit Mut und Entschlossenheit, was alles geht.

Schon sehr lange bevor das Wort "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft" erdacht oder ausgesprochen wurde, hat man in die europäische Idee gelebt. Hier, zwischen Brindisi und Lecce im Herzen des Salento, wo die Häuser im griechischen Stil erbaut werden – weiß und mit Flachdach –, ist der Wandel durch Handel eine jahrhundertealte Tradition. Das Weingut Vigneti Reale existiert bereits seit 1921 und hatte nie ausschließlich den lokalen Markt im Blick: In den ersten Jahrzehnten belieferte das Unternehmen mit Vorliebe toskanische und französische Kollegen, die in Apulien etwas fanden, was es daheim nicht gab: Weine mit Körper und Alkohol – wunderbar geeignet, den eigenen Tropfen ein wenig Leben und Stärke einzuhauchen. In diesen Fällen muss eindeutig von einem Süd-Nord-Gefälle gesprochen werden.

Es dauerte jedoch gut 80 Jahre, bis sich die Familie Reale Anfang der 2000er Jahre entschloss, auf die Produktion hochwertiger Weine in Einzelflaschen zu setzen. Damiano und Amedeo Reale waren damals hochgeachtete Lieferanten der örtlichen Winzergenossenschaft. Alles lief rund – bis die EU-Subventionen versiegten. Und nun? In dieser Krise entdeckten sie eine Chance: "Unser Erfolg gründet buchstäblich auf Ruinen", sagt Damiano Reale, "denn wir übernahmen die Winzergenossenschaft nach deren Konkurs – fest davon überzeugt, dass unsere roten Rebsorten und im Konzert der großen Weine mitspielen können."

Und siehe da, sie konnten. Im Gegensatz zu den Häusern ist die fruchtbare Erde dieses Landstrichs eher rot, verursacht durch einen hohen Lehm- und Tonanteil, der hilft, das wenige Wasser, das vom Himmel fällt, zu halten. Denn die Regentropfen verdampfen manchmal, bevor sie auf den heißen Böden Apuliens aufgekommen sind. Um Sonne braucht sich der Otto-Normal-Apulier also keine Gedanken zu machen, aber die Rebe braucht nicht nur Wärme. Glücklicherweise sorgt das nahe Mittelmeer für nächtliche Abkühlung, was bei der Aromenbildung ungemein hilft. Der wichtigste menschliche Eingriff, den die Gebrüder Reale vornahmen: Sie sorgten mit modernster Kellertechnik für eine temperaturkontrollierte Gärung, damit die nicht wie Obstkompott und die nicht nach Kochmarmelade schmecken, sondern wie kräftige, aber dennoch hochelegante Weine aus Süditalien.

Inzwischen haben das auch viele nordeuropäische Weingenießer wahrgenommen, die Primitivo und Negroamaro genauso unfallfrei buchstabieren können wie Chianti oder Barolo. In Abwandlung eines Werbeslogans: Europa ist der Anfang von allem!

Wendelin Niedlich
(WEIN NEWS November 2015)

Il Nome del Vino
Blasi – der Name eines alten Gehöftes in der Nähe der Chardonnay-Reben
Norie – Norias sind die Mühlsteine, die früher zur Olivenölproduktion verwendet wurden
Rudiae – ist der Name der alten Hauptstadt der Messapier (Volk zwischen zwei Meeren) in vorchristlicher Zeit. Heute: Lecce
Santa Croce – Basilica in Lecce, die als Glanzstück des Salentiner Barock gilt