
Die Magie des Ortes
Es mag berühmtere Regionen geben, aber schönere? Am Étang de Thau schafft die Domaine de Belle Mare zauberhafte Weine.
Es liegt ein Glitzern in der Luft, ein Schwirren und Flirren – der Sonnenaufgang am Étang de Thau ist ein magischer Moment. Die 18 Kilometer lange Lagune ist nur durch eine schmale Sandbank vom Mittelmeer getrennt und wer an einem Sommermorgen am Westufer gen Osten schaut, für den verschwimmen See, Meer und die rasch wärmer werdende Luft zur faszinierenden Einheit eines William-Turner-Gemäldes. Die Hausbootfahrer, die den Canal du Midi ab Toulouse entlangschippern, sind hier am Ziel. Ornithologen aus der ganzen Welt beobachten hier Flamingos, Graureiher, Seidenreiher, kurz: Hunderte von Vogelarten. Aber auch Feinschmecker und Weinliebhaber finden hier ihr Eldorado: Eine der größten Austernzuchten Frankreichs befindet sich am Étang de Thau und an den Ufern der Lagune wächst Wein…
Gilbert Michel sieht man seine Verliebtheit an: "Als ich vor 15 Jahren die Möglichkeit hatte, dieses Weingut zu kaufen" – er lässt den Blick über die Reben schweifen und macht eine vielsagende Pause – "da konnte ich einfach nicht anders!" Michel erweiterte die Anbauflächen von 48 auf 63 Hektar. Nicht, um mehr ernten zu können, sondern um neben den lokalen Helden Piquepoul, Cinsault, Grenache und Syrah auch "kleine" Sorten wie Roussanne, Muscat blanc à petits grains, Viognier und Vermentino liebevoll zu kultivieren. Ein Kurs, den auch sein Önologe Jacques Combelasse zu 100 Prozent unterstützt: "Artenvielfalt ist in dieser Gegend quasi eingeschrieben. Und es gibt kaum etwas Schöneres und Spannenderes für uns Weinmacher, als Jahr für Jahr die perfekte Cuvée mit unseren zahlreichen Sorten zu kreieren." Möglich wird diese Vielfalt auch durch besondere klimatische Bedingungen am Étang. Während der Sommerurlauber nur die Knallhitze wahrnimmt, wissen die Einwohner auch um die kühlende (und nervende!) Wirkung der zum Teil ausgesprochen heftigen Winde Mistral und Tramontana. Auch die Lagune selbst und natürlich das nahe Mittelmeer schaffen nächtliche Kühlung und dienen als Regulativ zur Sonnenkraft. Und weil der große Planet auch zur Erntezeit noch kraftvoll scheint, werden beispielsweise die Weißweine nachts gelesen, mit anschließender temperaturkontrollierter Gärung. "Wir tun alles, wirklich alles, um auch das kleinste Fruchtaroma zu erhalten", ergänzt Jacques Combelasse. Mit Erfolg – in jeder Flasche Les Granges wird der Nachweis erbracht.
Die Freude an der Cuvée verhindert jedoch nicht, dass die Rebsortenweine unter ferner liefen behandelt werden. "Ganz im Gegenteil", sagt Gilbert Michel, "wir kennen deren Charakter ja sehr genau und wollen, dass die Weingenießer den klarsten und besten Ausdruck der Rebsorte erhalten. Von diesem wunderschönen Stückchen Erde…" Und wieder ist ein leicht verklärter Ausdruck in seinen Augen. Inzwischen ist es Abend geworden am Étang. Und "Le soleil couchant", die Sonne, die sich schlafen legt, ist an der Lagune genauso spektakulär schön wie der Morgen…
Wendelin Niedlich
(WEIN NEWS Juli 2015)