Das Erweckungserlebnis

Weingut Cascina Radice

Der Weingeist weht wo er will. Abseits der mondänen Weinorte des hat er die Cascina Radice reichlich beschenkt.

Beim Wein hat jeder sein Erweckungserlebnis. Mich ereilte es dereinst im Piemont. Dahin waren wir aufgebrochen, um einen großen Anhänger voller 20-Liter-Kanister möglichst günstig mit offenem Wein, vino sfuso, für anstehende Sommerpartys zu befüllen. Erste Station, na klar, Barolo. Die Weine haben uns auf ewig der Masse der Biertrinker entrückt. Das war des Erweckungserlebnisses erster Teil. Allerdings weigerten sich die arroganten Winzer doch tatsächlich, ihren tollen Stoff in unsere Kanister zu füllen. Und die aufgerufenen Flaschenpreise empfanden wir gelinde gesagt als Unverschämtheit (aus heutiger Sicht kommen mir die Tränen, wie günstig wir damals hätten zuschlagen können). Also fuhren wir ein paar Hügel weiter ins Astigiano und landeten mitten im Paradies. Die Trattorias dort – nur Schnösel gehen ins Ristorante – sprengten unsere kulinarische Vorstellungskraft, ohne unser Budget im Mindesten zu belasten, was übrigens auch heute noch gilt. Dann trafen wir auf uns gleichaltrige Winzerinnen und Winzer, die gerade dabei waren, die Rebsorte Barbera von ihrem traditionellen Lambrusco-Schäumen (vivace!) zu befreien und sagenhaft kirschfruchtige Gewächse daraus zu zaubern. Coole Typen, coole Weine – die Offenbarung. Womit wir bei Andreas Mazzei und der Cascina Radice wären.

"Die Barbera ist kein Schmuser und die Cortese kein Schmeichler", sagt Andreas Mazzei. "Sie leben von ihrer Primärfrucht und der Lebendigkeit." Die weiße Cortese steckt hinter dem Gavi di Gavi, hat aber von dessen Weltruhm als Traubensorte nichts abbekommen. Höfl ich, wie ihr Name Cortese schon sagt, und bescheiden zeigt sie sich daher außerhalb des Gavi-Gebiets als veritables Schnäppchen mit wunderschöner mineralischer Spannkraft. Ein Barbera Mazzei’scher Prägung geht vom Gaumen direkt ins limbische System, unser Gefühlszentrum, und löst Assoziationen von Piemontkirschen, lachenden Menschen und Bergen von Salami, Vitello Tonnato und handgemachter Pasta aus. Eine so klare, direkte und herzliche Ansprache wie von den beiden Basisweinen der Cascina Radice wünscht man sich sehnlichst auch in anderen Lebensbereichen.

Geschmacklich in einer anderen Liga spielt der Barbera d’Asti Superiore, ein herausragender Rotwein mit Feuer und Tiefe. Die spätgelesenen Trauben werden bis zu zwölf Tage auf der Maische vergoren und reifen dann 16 Monate in 3000 l Fässern aus französischer Allier-Eiche. "Spitzen-Barberas brauchen Zeit", weiß Andreas Mazzei. "Dann wandelt sich Ungestüm in Eleganz und das große Holzfass gibt genau das Maß an seidigem Tannin, das der Traube von Natur aus fehlt." Es war diese Art Wein, die uns damals bewog, diverse Kanister zu entsorgen, um Platz zu schaffen für eine stattliche Anzahl von Sechserkisten, die unser Genussleben nachhaltig verändert haben.

Gotthard Scholz
(WEIN NEWS Juni 2016)