Südfranzösische Visionen

Das Languedoc erlebt derzeit ein Weißweinwunder namens Marsanne, Viognier oder Roussanne. An dem Erfolgsprojekt beteiligt sind Bourgeois und Genossen gleichermaßen.

Die kleine romanische Kapelle ist stehen geblieben. Ansonsten ließ der einstige englische Banker Graham Nutter auf Château St. Jacques d’Albas keinen Stein auf dem anderen. Die alten, auf Masse ausgerichteten Rebstöcke? Raus! Die durch Kunstdünger ausgelaugten Böden? Raus! Die großen Steinplatten, die das Wurzelwachstum stoppten? Zertrümmert und auf die Fläche verteilt. Neue Böden wurden aufgebracht und ihnen einige Jahre Ruhe gegönnt, um ins ökologische Gleichgewicht zu kommen. Dann erst wurden erstklassige Viognier- und Vermentino-Stöcke gesetzt und biologisch bewirtschaftet. Lohn der Mühe ist der "Petit St. Jacques", eine unserer aufregendsten Entdeckungen der letzten Zeit: eine einzigartige Melange aus verschwenderischer Aromafülle und mineralischer Struktur.

Eine ähnliche Biografie und Besessenheit können Béatrice und Bertrand Nivollet aufweisen. Nordfranzösisch geprägt, setzten sie in ihrem Château Haut-Blanville zu Beginn auf klassische Rebsorten wie Chardonnay. Über die Jahre entdeckten sie dann die Faszination der autochthonen Rebsorten. Ihre "Grande Réserve" vereinigt das Beste aus beiden Welten.

Der Chardonnay bringt burgundischen Schliff und Cremigkeit ein, die seltene Roussanne setzt die floralen, mediterranen Akzente. Man kann über Genossenschaften Vorurteile pflegen – oder den "Chevalier de la Gardie" aus dem Minervois probieren. Das haben viele unserer Kunden im Frühjahr erstmals getan und der Wein entwickelte sich zum Shooting-Star der Saison. Daher bekommt er eine Zusatzvorstellung in den WEIN NEWS. Der Wein ist doppelt rar. Zum einen, weil der Bestand der Rebsorte Marsanne überschaubar ist. Zum anderen, weil sie fast nie reinsortig ausgebaut wird. Mit dem Dreiklang frisch, füllig und floral vermag Marsanne den Gaumen zu fesseln.

In Deutschland soll man bekanntlich zum Arzt gehen, wenn man Visionen hat. In Frankreich glücklicherweise in den Weinberg.

— Gotthard Scholz